Schauspieler und Autor
Foto: Anett Kállai-Tóth
Fotos: Anett Kállai-Tóth
Kann diese Geschichte Ihrer Meinung nach Lesern helfen und ihnen Kraft geben, die in einer ähnlichen Familie aufgewachsen sind? Wie kann man solch eine Kindheit aufarbeiten? Was passiert, wenn die Männer in einer Familie nur die Sprache der Gewalt beherrschen, wie lange dulden die Frauen und die Kinder die Misshandlung? Wie kann man aus solch einer Welt aussteigen und danach im Leben zurechtkommen? Woher nahm der kleine Junge, Szöcske, die Kraft, seine Peiniger hinter sich zu lassen? Kann das Lachen die Tragik der Handlung beschwichtigen?
Der Roman sucht Antworten unter anderem auf diese Fragen.
Viele Leute leben in einem ähnlichen Umfeld, oder in einem noch schlimmeren. Und ehrlich gesagt bin ich auch nicht in einer Bilderbuchfamilie aufgewachsen.
(Nach Péter Hományi am 16. 2. 2019 auf www.mindennapkonyv.hu)
Das kann ich im Nachhinein nicht mehr genau sagen. Die ganze Handlung ist Fiktion, enthält aber sehr viele autobiographische Elemente. Es ist mein Leben. Den ganzen Roman habe ich aus mir selbst hervorgeholt, aber auch andere Schicksale mit hineingenommen. Was eindeutig autobiographisch ist, sind die Figuren und das Umfeld, das Milieu, das auch mich umgeben hatte; Situationen und Geschehnisse aus meinem Leben, die mir jedoch nicht unbedingt hundertprozentig auf diese Weise widerfahren sind, aber das möchte ich nicht mehr auseinanderfädeln.
(Nach Ágnes Karácsony, 9. 3. 2018 auf www.fidelio.hu)
Foto: Anett Kállai-Tóth
Als ich am 7. Juni 2016 morgens meinen Kaffee kochte, kam mir folgender Satz in den Sinn: Es war ein wunderschöner Juninachmittag. Und obwohl er nichts Besonderes an sich hatte, riss er mich dennoch mit. Also nahm ich meine Kaffeetasse, setzte mich an den Computer und tippte die fünf Worte ein.
Ich hatte keine Ahnung, was daraus werden würde; ob weitere Sätze kommen würden, und ob diese dann zueinanderfinden und etwas ergeben würden.
Trotzdem ließ ich mich mitreißen, und schon kam die nächste Zeile: Auf der Straße fuhren damals noch kaum Autos. Man konnte… Ich schrieb von morgens bis abends, vier Monate lang.
(Nach Ágnes Karácsony, 19. 3. 2018 auf www.szinhaz.org)
Der Roman spielt irgendwo in der Mitte der ungarischen Tiefebene, wo Menschen manchmal aufhören, Mensch zu sein. Die Geschichte handelt von einer Familie, wo die Schicksale und damit auch die Sünden von Generation zu Generation weitergegeben werden. In diesem emotional und auch physisch engen Umfeld muss man eine Tür erst schließen, um die andere öffnen zu können. Und alle dulden, als müssten sie die Untaten und Demütigungen ertragen, weil das ‚Gesetz‘ ihrer Welt es ihnen vorschreibt.
Beim Schreiben dachte Mihály Ozsgyáni gar nicht daran, den Roman zu veröffentlichen. Er zeigte ihn lediglich Kollegen und Freunden. Das Manuskript wurde aber unaufhaltsam von Hand zu Hand, von E-Mail zu E-Mail weitergegeben, und schuf dem Autor eine große Leserschaft. Es entstand eine „Guerilla-Leseaktion“ und man hörte immer wieder die Frage: „Hast du Ozsgyánis Buch auch schon bekommen?”
(Nach Ágnes Karácsony, 9. 3. 2018 auf www.fidelio.hu)
(Europäischer Filmpreis und Oscarnominierung)
„Wer intuitiv schreibt, der gelangt in besondere Abgründe. Und wer auf diesem Weg in die Tiefe jeden Satz aus instinktiver Klarsicht formuliert, beschert den Leser mit segensreicher Ehrlichkeit. Es ist ein mitreißendes, kaum analysierbares, eher erlebbares Werk. Am Ende befinden wir uns in einer schweren Schlacht, aus der wir erschöpft wieder ankommen, nachdem wir Schicksale kennengelernt haben, die uns von jetzt an ewig begleiten werden. Wir erfahren auch die Anwesenheit der sich von wildem Hass ernährenden Liebe. Man könnte meinen, so etwas gibt es gar nicht — doch, es gibt sie, ausgesprochen sogar, nur hat sie eine andere Qualität und ist zauberhaft. Tauchen Sie tief in die Sätze hinein, in dieses wundervoll formulierte Geständnis. Es lohnt sich. Dank dem, der es entdeckte, Dank dem, der es veröffentlicht.”
Foto: Anett Kállai-Tóth
Die Geschichte des Romans Mein Schleier rutschte ein wenig zur Seite wird vom jüngsten Mitglied der Familie Szívós erzählt, der 9 oder 10 Jahre alt sein mag, und dessen Name kaum bekannt ist, er wird nur ein einziges Mal als Szöcske erwähnt.
Das Leben der Familie Szívós und deren Seitenlinien ist alles andere als alltäglich, dennoch ist es nur zu erschreckend und bis zum Mark durchdringend der Alltag. Szöcske wächst mittendrin auf, also findet er nichts Überraschendes oder Falsches daran, dass jeder in der Familie wie ein Kesselflicker trinkt und dass einer jeden Morgen nur zwanzig Minuten in seinem Leben hat, um in die Vaterrolle zu schlüpfen. Jeder wird geschlagen – das heißt, die Männer stabilisieren ihren Platz in der Hierarchie jedes Mal durch Schläge. Die Männer sind ohne Ausnahme gewalttätig, meistens auch rasend eifersüchtig und halten die gewaltigen Ohrfeigen und Tritte als effektive Methode zur Klärung der Angelegenheiten. Nachdem sie auf diese Art alles geklärt haben, weisen sie die Familienmitglieder auch noch zurecht, was sie dem Arzt darüber berichten sollen, wer wo hingefallen sei. (…)
Nach unserem heutigen intellektuellen Verstand ist es eine grauenhafte Welt, aber siehe da, Ozsgyáni beschreibt sie bloß objektiv. Als ginge es gar nicht um Szöcske. Dadurch wird es noch unheimlicher. Szöcske verspürt nämlich gar keine Angst, obwohl er schreibt: „Wir wussten, dass es in solchen Fällen am besten war, sich zu verstecken“.
Ozsgyánis Textstrukturierung ist ein wenig irregulär (…), als würde er seine Kindheit auch in einer Kneipe erzählen, bei einem Glas Soda nach dem anderen, denn so genau formulieren, Situationen derart zu beschreiben und das Breitbild mit vielen Charakteren zu einer Geschichte zu formen – das kann man nur in trockenem Zustand, ohne Alkohol. Und warum gerade in der Kneipe? Weil einerseits nichts zu spüren ist von der leichten Beklemmung, die in der Praxis des Psychologen durch die Luft vibriert, andererseits, weil die Geschichte ihren vollen Effekt nur in Gesellschaft erreicht. Man hört beinahe das wiehernde Gelächter der Freunde, während sich die Story weiterentwickelt.
Schön und gut, aber da sind noch die letzten zehn Seiten: Das Treffen nach der langen Pause zwischen dem Monstervater und dem selbstständig gewordenen, erwachsenen Sohn, im Tore des Todes. Der einfache Text und die eindeutige Kommunikationsunfähigkeit verleihen der Geschichte einen dramatischen Abschluss.
Die Lebensgeschichte von Szöcske schlägt also aufs Gemüt, Ozsgyáni hat sich wiederum mit seinem Werk gut geschlagen.
J. István Bedő
Foto: Anett Kállai-Tóth
DER AUTOR